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Andacht für die Woche vom 18. bis 24. April 2021 - Pfr. i.R. Jürgen-Peter Lesch

Fri, 16 Apr 2021 09:13:51 +0000 von Klaus Fröhlich

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EIN PSALM DAVIDS.
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.“

(Psalm 23 in der Übersetzung der Lutherbibel 2017)

Vor vierzig Jahren, im Februar 1981, kam ein Film in die deutschen Kinos, der ganz anders war als alles, was damals in den Kinos gezeigt wurde. Es war der zweite Film von David Lynch – wie sein erster in Schwarz-Weiß gedreht. „Der Elefantenmensch“ ist der Titel des Films, der auf seltsame Art aus der Zeit gefallen schien. Es wundert nicht, dass ihn nur etwa 185.000 Menschen im Kino sehen wollten. Ich denke, sie haben einen wundervollen, traurigen und berührenden, aber auch grausamen Film verpasst. Er beschreibt ein Unglück, für das niemand verantwortlich gemacht werden kann, nicht einmal „die Gesellschaft“.

Es dauert im Film über eine halbe Stunde, bis man John Merrick, den Elefantenmenschen, zum ersten Mal wirklich sieht, bis es der Regisseur David Lynch wagt, diesen ganz und gar deformierten Menschen ohne Maske und ohne den Schutz mildtätiger Schatten zu zeigen: einen von Geschwüren und schwammigem Gewebe übersäten Körper, auf dem ein übergroßer, beulenförmig verunstalteter Kopf sitzt, fast ohne Mund. Nichts ist normal an dieser Gestalt: Der eine Arm, ein unförmiger Stumpen, scheint auf den dreifachen Umfang angeschwollen, die Hüfte sitzt an der falschen Stelle.

Dieser Mensch ist 21 Jahre alt, als ihn der Arzt Dr. Frederick Treves im Jahr 1884 auf einem Londoner Rummelplatz findet, wo er in einer Monstrositäten-Schau als „The Elephant Man“ ausgestellt wird. Der Chirurg und Anatomie-Dozent Treves bringt den scheinbar schwachsinnigen Fleischklumpen ins London-Hospital und verbirgt ihn in der als Isolierstation ausgestatteten Dachkammer. 

Das Problem ist, dass im Hospital chronisch oder unheilbar Kranke nicht behandelt werden. Doch Dr. Treves versucht, den Vorsitzenden des Krankenhaus-Komitees, Carr Gomm, davon zu überzeugen, dass Merrick dort bleiben kann. Um das zu erreichen, muss er ihn dem Vorsitzenden vorstellen. Der willigt ein, selbst den Kranken in Augenschein zu nehmen. Er und Dr. Treves suchen also John Merrick in seinem Krankenzimmer auf. Doch im Gespräch wiederholt Merrick immer nur zusammenhanglose Phrasen. Daher vermutet der Vorsitzende, dass es sich bei ihm um einen Schwachsinnigen handelt, den man entsprechend trainiert hat. Für den wäre aber kein Platz im Hospital.

Carr Gomm verlässt mit Dr. Treves den Raum. Beide stehen noch auf dem Treppenabsatz, als sie aus dem Krankenzimmer die Stimme Merricks hören: „The Lord is my shepherd; I shall not want. He maketh me to lie down in green pastures: he leadeth me beside still waters. …” 

Diese Szene hat mich, als ich sie zum ersten Mal sah, erschüttert und berührt. Und sie berührt und erschüttert mich auch jetzt, wenn ich sie mir vorstelle. Es berührt mich, dass eine derart groteske Gestalt einen Bibeltext auswendig sprechen kann. Und es erschüttert mich, dass es gerade dieser Psalm 23 ist, diese Worte voller Gottvertrauen, den ein schrecklich leidender Mensch spricht. 

„I use to read the bible every day“, sagt John Merrick, als die beiden Ärzte ins Zimmer zurückkommen und ihn befragen. „I know it very well“, fährt er fort, „and the book of psalm is my favorite”. Damit ändert sich alles. Der Vorsitzende sieht ein, dass er John Merrick völlig falsch eingeschätzt hat. Denn der kann nicht nur lesen und auswendig lernen. Er wird in seinen letzten Lebensjahren, die er im London-Hospital verbringt, Briefe schreiben. Er wird Gäste empfangen wie die Prinzessin Alexandra. Er wird unter Menschen und ins Theater gehen. Und er wird ein Modell der St. Philips Kathedrale in Birmingham aus Pappe herstellen. Er hatte sie nie gesehen, sondern hat sie nach Architekturzeichnungen konstruiert. 

Es ließe sich jetzt viel darüber sagen, was es bedeutet, „dass dieser groteskeste aller Froschkönige in Wirklichkeit ein Prinz ist, dass diesen grausigen Leib eine vornehme Seele belebt,“ wie es damals in einer Filmkritik hieß. Es ließe sich darüber klagen, dass in unserer Gesellschaft der Schein immer wichtiger wird als das Sein. Dass wir andere Menschen immer stärker nach ihrem Aussehen bewerten und immer weniger Mühe darauf verwenden, sie näher kennenzulernen. All das ist wichtig, doch ich lasse es hier beiseite.

Mich bewegt die Frage, warum lässt hier David Lynch, der nicht im Verdacht steht, ein überzeugter Christ zu sein, John Merrick in einer ganz entscheidenden Szene des Films den Psalm 23 sprechen?

In seinem Bericht schreibt Dr. Treves über John Merrick:
Er hatte lesen gelernt … und war ein fast unersättlicher Leser. Doch seine Auswahl an Büchern war begrenzt. Da waren die Bibel und das Gebetbuch, die er genau kannte. ... Aber besonders gern las er auch Liebesromanzen. Diese Geschichten waren für ihn real, so real wie jede Erzählung in der Bibel.“ 

Vielleicht ist es das: John Merrick hat die Bibel und darin die Psalmen nicht nur gelesen und dabei auswendig gelernt. Was er da las, war für ihn ganz real. Was in Psalmen steht, in dieser „kleine Biblia“ wie sie Martin Luther nennt, erlebte er am eigenen Leib. Das Wunderbare ist, dass offenbar nicht ein Klagepsalm der Wichtigste für ihn ist. Als John Merrick in seinem Krankenzimmer zurückgelassen wird, weil er für schwachsinnig gehalten wird, spricht er nicht den Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.“ Nein, er wählt den 23. Psalm.

Da spricht einer, der ganz und gar auf Gott vertraut. Da spricht einer, der im Innersten weiß, dass Gott für ihn da ist und da sein wird. Welch ungeheurer Gegensatz: Er ist seiner unheilbaren, furchtbaren Krankheit ausgeliefert und über viele Jahre gefühls- und mitleidlosen Menschen schutzlos preisgegeben. Und er spricht davon, dass er keinen Mangel hat, ihm nichts fehlt. Eingesperrt in einer stinkenden Bude auf einem Rummelplatz, umhergestoßen von seinen „Besitzern“, spricht er von einer grünen Aue und frischem Wasser. Damit dass David Lynch hier den 23. Psalm sprechen lässt macht er deutlich, was Dr. Treves über John Merrick geschrieben hat:
„Er war durch das Feuer gegangen und war unversehrt herausgekommen.Seine Probleme hatten ihn veredelt.Er zeigte sich als eine sanfte, liebevolle und liebenswerte Kreatur, so liebenswürdig wie eine glückliche Frau, frei von jede Spur von Zynismus oder Ressentiments, ohne eine Beschwerde und ohne ein unfreundliches Wort gegenüber anderen.Ich habe nie gehört, dass er sich beschwert hätte. Ich habe nie gehört, dass er sein Leben, das andere ruiniert hatten, bedauerte, oder sich über die Behandlung beschwerte, die er erneut erfahren hatte durch die gefühllosen Menschen, die ihn gefangen gehalten hatten.“

In einem monströsen und hinfälligen Körper lebt eine reine und starke Seele. So ist gerade John Merricks Schwäche seine Stärke. An seiner Schutzlosigkeit bricht sich die Welt.

Gerade dann, wenn wir Menschen schutzlos sind, uns ausgeliefert fühlen und keine Perspektive sehen, gewinnen die Worte des Psalms 23 ihre wahre Bedeutung. Es geht dann nicht darum, Stärke zu zeigen. Es hilft keine Aufforderung „Kopf hoch!“ zusammen mit einem leichten oder auch kräftigen Schulterklopfen. Das trägt uns nicht durch das finstere Tal hindurch. Doch das Wissen, ja die Gewissheit, dass Gott gerade dann bei uns ist und uns begleitet, das kann uns Kraft geben. 

Vor 500 Jahren, im April 1521, stand Martin Luther in Worms vor dem jungen Kaiser Karl V. Er war nicht allein, doch im Grunde musste er die folgenschwere Entscheidung allein treffen. Die Entscheidung, ob er sich weiter für grundlegende Veränderungen in seiner Kirche einsetzen wollte – bei Gefahr für Leib und Leben – oder ob er klein beigeben wollte, so wie es ihm auch mehrere seiner Unterstützer rieten. Gerade da muss Luther darauf vertraut haben, dass er von Gott begleitet und geleitet wird. Allerdings war er dabei kein schlichtes Schaf, das sich einfach unterwirft und nicht mehr nach dem Weg fragt. Wir wissen, wir sehr Luther mit Gott um den rechten Weg gerungen hat – und dabei wohl manchmal vom Weg abgekommen ist. 

Denn das ist wichtig: Der Weg unter Gottes Stecken und Stab ist nicht mit Leitplanken versehen. Es ist kein Weg, auf dem man mit großen Schritten schnell vorankommt. Er ist oft mühsam und muss  manchmal freigekämpft werden. Das Vertrauen auf Gott, das uns Sicherheit gibt, ist kein blindes Vertrauen. Es ist ein bewusstes und verantwortetes Vertrauen darauf, dass Gott es gut mit uns meint. Und es ist ein Vertrauen, das uns zwar geschenkt ist, aber um das immer wieder gerungen werden muss. Es ist nicht falsch, sich zu sorgen. Doch es ist wichtig, sich um das Richtige zu sorgen.

Dabei sollten wir im Blick behalten: Es geht im Psalm nicht allein um eine sichere Wegbegleitung. Es geht auch um die Einladung zu einem Festmahl. Ein Mahl, bei dem wir an Gottes Tisch sitzen. Am Tisch Gottes sitzen und bewirtet werden – genau das feiern wir im Heiligen Abendmahl. Dieses Mahl können wir immer noch nicht feiern, doch wenn wir die Worte des 23. Psalms sprechen, werden wir mit hineingenommen in diesen Festsaal Gottes, in dem wir mit allem so gut versorgt werden, dass die Becher überlaufen. 

Am Schluss des Psalms irritiert die Formulierung Luthers: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang“. In seiner ersten Übersetzung hatte er noch wörtlicher gesagt: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir nachlaufen mein Leben lang“. Das macht uns zuversichtlich: Wir können Gottes Güte und Gnade nicht entkommen. Das heißt auch: Wir können uns einfach einmal ausruhen, zur Ruhe kommen, immer wieder ausruhen im Hause des Herrn, das immer dort ist, wo Gott ist. Und der ist, so ist seine Zusage, immer schon da – vor uns, mit uns und für uns.

Amen.
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