Spruch für die Woche nach dem Erntedankfest 2020:
Aller Augen warten auf dich, Herr, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.
Psalm 145,15
Liebe Leserinnen. Liebe Leser.
Auch in diesem Jahr, vielleicht sogar besonders in diesem Jahr mit seinen teilweise extremen Wetterlagen gilt das, was Matthias Claudius geschrieben hat: Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land. Doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand.
Der Spruch für diese Woche aus Psalm 145 sagt es in einem Bild aus seiner Zeit. In der Familie herrschte eine strenge Hierarchie. Der Vater als das Familienoberhaupt saß am Kopfende des Tisches. Rechts und links von ihm an der Längsseite des Tisches saßen seine Familie, das Gesinde (die landwirtschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) und die Gäste. Das Familienoberhaupt, der Patriarch, nahm zuerst von der Speise und teilte dann den anderen die Mahlzeit zu. Auf dem Hintergrund dieses „settings“ sind die Worte zu verstehen: Du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Gott teilt uns Menschen mit seiner fürsorglichen und gnädigen Hand das zu, was wir zum Leben brauchen.
Wir haben inzwischen unsere Bilder, in denen wir von Gott reden, erweitert. Gott ist für uns nicht nur der Patriarch und wir sind nicht nur die dankbaren, aber auch tatenlosen Empfänger. Wir werden selbst aktiv und sorgen dafür, dass die Menschen die richtige und genug Speise bekommen. Dazu orientieren wir uns an dem Schöpfer, der die Menschen beauftragt hat, seine Schöpfung zu „bebauen und zu bewahren“. Ein angemessenes Bild dafür ist für mich die Leitungsstruktur eines großen Konzerns. Da gibt es einen Vorstand und einen Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat entscheidet über die finanziellen, personellen und unternehmerischen Rahmenbedingungen. Der Vorstand füllt diese Rahmenbedingungen mit wirtschaftlichen Maßnahmen, die er vor dem Aufsichtsrat verantworten muss. Kurz gesagt: Der Aufsichtsrat muss die richtigen Sachen machen. Der Vorstand muss die Sachen richtig machen. Diese Unterscheidung gilt auch für die Leitung und Geschäftsführung aller Betriebe.
So ähnlich verstehe ich das Bild des Psalms für unsere Zeit: Gott hat die Rahmenbedingungen für seine Welt gesetzt, durch seine Gebote und durch seinen Sohn Jesus Christus, und wir erfüllen sie mit Leben, und sind ihm dafür verantwortlich.
Ein zweiter Gedanke in dem Psalmvers ist mir wichtig: Aller Augen warten auf dich, Herr.
Ich muss gestehen: Warten fällt mir schwer, wie vielen anderen auch. Wenn ich jemandem eine WhatsApp schicke, erwarte ich eine zeitnahe Antwort. Ich möchte auch, dass Züge und Busse pünktlich sind, denn warten mag ich gar nicht. Doch in Zeiten der Pandemie müssen wir warten lernen, z. B. auf einen Impfstoff gegen das Virus. Das kann doch nicht so lange dauern! denke ich manchmal. Ich mag eben nicht warten. Alle Menschen in der Landwirtschaft oder mit einem Garten allerdings sind geradezu gezwungen, zu warten. Dadurch, dass man an den Weizenhalmen zieht, werden sie nicht schneller reif. Sie brauchen ihre Zeit.
Aller Augen warten auf dich, Herr. Gott lässt sich Zeit. Aus meiner Kindheit ist mir ein Spruch in Erinnerung geblieben:
Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich fein.
Was mit Langmut er gesäumet, holet er mit Schärfe ein.
Aber wann holt er es mit Schärfe ein? Wie lange soll ich denn noch warten?
Gott lässt sich aber nicht nur Zeit. Er gibt uns auch Zeit, Zeit, Dinge zu ändern, besser zu machen, umzukehren. Deswegen möchte ich lernen, zu warten, auch auf Gott zu warten.
Und: Warten kann auch zur Dankbarkeit führen. Wenn Wünsche sofort erfüllt werden, was viele für normal halten, entfällt meistens die Dankbarkeit. Es entfällt die seelische Anstrengung des Wartens. Von einem Mönch ist folgendes Gebet überliefert: Herr schenke mir Geduld. Aber bitte sofort!!!
Aller Augen warten auf dich, Herr. Vielleicht kann uns die Coronakrise ein wenig Geduld lehren und zur Dankbarkeit führen. Wir werden warten müssen. Besser, wir lernen es rechtzeitig.
Bleiben Sie behütet.
Ihr Wilhelm Niedernolte, Superintendent im Ruhestand, Eldagsen