Ein Gebet, von David.
Herr, hab ein offenes Ohr, antworte mir!
Denn ich bin niedrig und arm.
Bewahre mein Leben, ich bin dir doch treu!
Hilf deinem Knecht, du bist ja mein Gott!
Ich verlasse mich auf dich.
Denn du, mein Herr, bist gut und bereit zu vergeben.
Deine Güte kommt zu allen, die zu dir rufen.
Hör auf mein Gebet, Herr!
Achte auf mein Flehen um Gnade!
In meiner Not rufe ich zu dir!
Denn du wirst mir antworten.
Keiner ist wie du, mein Herr, unter den Göttern.
Kein anderer kann deine Werke vollbringen.
Es kommen alle Völker, die du geschaffen hast.
Sie werfen sich vor dir nieder, mein Herr,
und geben deinem Namen die Ehre.
Ja, groß bist du und tust Wunder,
du bist Gott, du allein.
Weise mir, Herr, deinen Weg,
dass ich wandle in deiner Wahrheit;
erhalte mein Herz bei dem einen,
dass ich deinen Namen fürchte.
Du aber, Herr, Gott, bist barmherzig und gnädig,
geduldig und von großer Güte und Treue.
(Ps 86,1-2+5-11+15)
Der Mensch, der hier betet, beginnt nicht mit schönen und andächtigen einleitenden Worten. Nein, er platzt sofort mit seiner Bitte heraus. Er ruft zu Gott: Herr, hab ein offenes Ohr, antworte mir!“ Erst nach dieser Bitte, die eher eine Forderung ist, folgt ihre Begründung: „Denn ich bin niedrig und arm“. In diesem ersten Rufen steht das Wort Herr in Kapitälchen gedruckt. Das ist immer dann der Fall, wenn im hebräischen Urtext dort das Tetragramm „JHWH“ steht. Im Judentum wird es nicht ausgesprochen, sondern beim Lesen z.B. durch „Adonai“ ersetzt. Für uns ist es immer ein Signal: Hier wird Gott angesprochen als der Höchste, als der Alleinige, als der Unvergleichliche, der Himmel und Erde gemacht hat. Der Beter wendet sich also an den einzigen, von dem er noch Hilfe in seiner Situation erhofft. Mit Gott, der alles vermag, beginnt sein Satz, und mit ihm selbst, der „niedrig und arm“ ist, endet er.
„Ich bin niedrig und arm“ – das ist so etwas wie ein Offenbarungseid. Das muss sich jemand erst einmal trauen. Und es passt ganz und gar nicht zu dem großen König David. Könige, Herrscher, Regierende reden nicht so von sich. Und doch - es könnte ein Zeichen von Größe und Souveränität sein, in bestimmten Situationen die eigene Hilflosigkeit eingestehen zu können. Nicht drumherum zu reden, keine Ausflüchte machen, die eigene Schuld nicht verdrängen oder auf andere schieben. Und auch nicht: sich selbst Mut machen wollen mit Worten wie „Das wird schon wieder“ oder „Kopf hoch“. Nein, solch billige Versuche unternimmt David hier nicht. Er erkennt seine Situation sehr genau und gesteht sich selbst und Gott ein: „Ich bin niedrig und arm“. Dieses Bekenntnis findet sich überdies in drei weiteren Psalmen, die David zugeschrieben sind.
Eine klare Einsicht in die eigene Situation steht am Beginn. Diese Offenheit ist die Grundlage der Bitten an Gott. Und die werden variiert: „Hilf mir, ich bin niedrig und arm“. „Ich bin dir doch treu.“ „Ich verlasse mich auf dich.“ „Deine Güte kommt zu allen, die zu dir rufen.“ Dahinter steht die Gewissheit, dass Gott gut ist und bereit zu vergeben. Der Betende erinnert Gott an den Kern seines Wesens: ein Gott für die Menschen zu sein, für das Leben. David weiß , was im Volk Israel seit der Zeit des Weges durch die Wüste unter der Führung von Mose immer wieder erkannt und bekannt worden ist: „Du aber, Herr, Gott, bist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue.“
Auf dieser Grundlage, in dieser Gewissheit wird das Gebet zu Gott gesprochen. Wie groß diese Not, diese Enge und Verzweiflung sind, wird darin deutlich, dass hier Gott viermal mit „mein Herr“ angesprochen wird und sich der Beter selbst als Gottes Knecht bezeichnet. Auf diese Weise wird die enge Beziehung zwischen beiden, dem Herrn und dem Knecht, deutlich. Der Beter weiß, dass er Gottes Eingreifen nur aufgrund der Gnade Gottes erbitten und erwarten kann. Er zählt keine eigenen Werke auf, sondern konzentriert sich in seinem Gebet vollkommen auf die Güte Gottes. Indem er das tut, wachsen Hoffnung und Glaube in ihm. Und so ändert sich die Bitte vom Beginn des Psalms in Gewissheit: „In meiner Not rufe ich zu dir! Denn du wirst mir antworten.“
Das ist das Entscheidende: Der Psalmbeter bittet nicht einfach nur um Gottes Hilfe. Er ist sich zwar sicher, dass Gott Wunder tun kann. Das unterscheidet dann auch den Gott Davids, der der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist, von all den anderen Göttern: „Keiner ist wie du, mein Herr, unter den Göttern. Kein anderer kann deine Werke vollbringen“. Doch diese Gewissheit ist für David kein Grund dafür, die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, dass es Gott schon richten wird. Vielmehr erwartet er eine Antwort, eine Orientierung: „Weise mir, Herr, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit“. Es geht dem Beter um den Weg, den Gott für ihn bereitet hat. Und es geht ihm um die Wahrheit Gottes.
Die Grundlage dafür, diesen Weg Gottes zu erkennen, ist die Orientierung an der Wahrheit Gottes, an Gottes Wort, wie es uns in der Bibel überliefert ist. Wir wissen, dass es David nicht leichtgefallen ist, diesen Weg zu finden. Und es ist ihm nicht immer gelungen, diesen Weg zu gehen. Für das Abweichen von der Wahrheit hat er einen hohen Preis bezahlt.
Wenn es schon David nicht immer gelungen war, den Weg zu finden, den Gott ihm angeboten hatte, dann sollte uns das ermutigen und zuversichtlich machen, uns auf die Suche zu machen nach dem Weg, den Gott jeder und jedem von uns anbietet. Wir wissen, dass unsere Versuche - immer wieder - scheitern können. Aber dieses Scheitern ist eben nicht endgültig. Auch David ist mehrmals gescheitert. Erinnern wir uns: Allein in den Psalmen sagt er viermal von sich: „ich bin niedrig und arm“.
Und wir haben Gottes Zusage als eine sichere Grundlage bei unserer Suche. Bei all unseren Versuchen, den Weg zu finden, den Gott uns anbietet, werden wir begleitet und getragen von dem Bekenntnis, das sich von Mose an durch die Geschichte unseres Glaubens zieht:
„Du aber, Herr, Gott, bist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue.“
Jürgen-Peter Lesch