Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die
Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Du lässest sie dahinfahren wie
einen Strom, sie sind wie ein Schlaf. Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf
dass wir klug werden. Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk
unsrer Hände bei uns. Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern!
Psalm 90
wir alle sind schon dem Tod begegnet: vielleicht haben wir ihn gesehen bei einer schlimmen
Psalm 90
wir alle sind schon dem Tod begegnet: vielleicht haben wir ihn gesehen bei einer schlimmen
Krankheit bei uns selbst, von der nicht klar war, wie sie ausgehen würde; ich habe den Tod
gesehen bei einem Frontalzusammenstoß in meinem Auto. Wir alle sind schon dem Tod begegnet, vielleicht bei Menschen in unserer nächsten Umgebung, haben gesehen, wie unser
Ehemann oder unsere Ehefrau auf den Tod zugegangen sind, unsere Arbeitskollegin, unser
Nachbar, unser Freund. Vielleicht hat jemand unter uns auch schon am Sarg eines seiner
Kinder gestanden. Wir alle sind schon dem Tod begegnet, vor längerer Zeit oder gerade
eben erst, sodass die Wunden noch nicht verheilt und die Schatten noch nicht gewichen
sind.
Wir haben Menschen verloren, die zu uns gehören, und oft vor der Frage gestanden, wie es
weitergehen soll ohne sie.
Die Dichterin Masha Kalleko sagt es so:
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?!
Allein im Nebel tast ich tot entlang
und lasse willig mich ins Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr,
und die es kennen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben.
Im Psalm 90 heißt es:
Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. Im Angesicht des Todes brauchen wir solche Zufluchtsorte, wir brauchen Menschen, die uns ertragen, die uns zuhören können, unsere Trauer aushalten, die unsere Ratlosigkeit gelten lassen können. Der Psalmsänger findet auch bei Gott seine Zuflucht, seine Schutzhütte im Unwetter. Menschen sprechen in unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Situationen sehr unterschiedlich von Gott. Unsere Bilder von Gott wechseln im Verlauf unseres Lebens, und unser Glaube und unsere Bindung an Gott sind von unterschiedlicher Intensität. Doch in allen Veränderungen unseres Glaubens und unserer Gottesbilder ist wohl unsere Sehnsucht erhalten geblieben nach einem Gott, der uns Schutz gibt, wenn wir schutzlos sind – Schutz in einer akuten Notsituation, Schutz aber auch für unser ganzes Leben. Der Psalmsänger beschreibt diesen
Schutz als Kreislauf unseres Lebens von Gott her und zu Gott hin.
Gott, du die lässt Menschen sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Unser Leben und das Leben derer, die nicht mehr bei uns sind, ist also nicht wie eine Linie, die irgendwo in nicht näher zu beschreibenden Sphären beginnt und irgendwo im Niemandsland endet, sondern unser Leben ist wie ein Kreis, der bei dem Schöpfer beginnt und bei ihm endet.
Du lässt die Menschen dahin fahren wie einen Strom / Fluss.
Wie einen Fluss, der sich seine Quellen nicht selbst suchen muss, sich nicht selbst erfinden muss, sondern der von Quellen lebt, die andere und ein anderer geschaffen hat. So leben auch wir von Voraussetzungen, die wir nicht selbst geschaffen haben, die auch unsere Eltern und Großeltern nicht geschaffen haben.
Der Fluss nimmt seinen Lauf, unscheinbar zunächst, doch dann immer gewaltiger: manchmal behäbig dahin strömend. Stetig und zuverlässig trägt er Lasten, feuchtet die Erde, erfreut die Menschen. Dann wieder gerät er in Turbulenzen, muss Widerständen ausweichen, stürzt in die Tiefe, ist eine Gefahr für andere – bis er einmündet und aufgeht in dem großen Meer, in der Grenzenlosigkeit und Ewigkeit, die zum Schöpfer zurückführt.
Gott, du die lässt Menschen sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Das ist gut zu wissen, dass unsere Verstorbenen bei Gott geborgen sind, dann können wir sie leichter loslassen, weil wir wissen, dass Gott sie nicht loslässt, so wie er uns nicht loslassen wird im Leben, im Sterben und im Tod.
Der Psalmsänger belässt es aber nicht bei dem Bild von der Zuflucht bei Gott und bei dem Bild des Flusses als Beschreibung unseres Lebens, sondern er richtet unseren Blick nach vorn, ermutigt uns, die Verantwortung für unser Leben, für unsere Zukunft und die Zukunft derer, die nach uns kommen, wieder zu gewinnen, wenn er sagt: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.
Die Einsicht, dass auch wir sterben müssen, führt zur Klugheit, zur Lebensweisheit. Diese Einsicht stellt sich selten von selbst ein, vielleicht wächst sie im Lauf eines Lebens
Lehre uns die Erkenntnis, dass unser Leben einmalig ist, voller Chancen, aber auch in der Gefahr verpasster Chancen, die nicht wiederkommen, Fehler, die nicht korrigierbar sind. Lehre uns, wie wertvoll unsere gemeinsame Zeit ist, dass wir als Eheleute, als Familie und Freunde miteinander unterwegs sind, wenn auch nur für begrenzte Zeit. Und lehre uns zu unterscheiden zwischen dem, was wichtig ist und dem, was unwichtig ist, den Unterschied zwischen dem, wo unsere Kraft und unser Einsatz nötig sind, und dem, was wir auch getrost lassen können.
Lehre uns solche Klugheit, damit sich die abschließende Bitte des Psalms erfüllen kann:
Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. Ja, das
Werk unsrer Hände wollest du fördern!
Noch sind wir auf dem Weg, und wollen noch auf dem Weg bleiben. Noch warten Herausforderungen auf uns, und wir wollen sie annehmen. Noch warten gute Tage auf uns, und wir wollen sie genießen. Noch warten Enttäuschungen auf uns, auch sie wollen wir bestehen – bis der Strom unseres Lebens einmündet in das Meer der Ewigkeit Gottes.