„Verhilf mir zu meinem Recht, Gott! Vertritt mich vor Gericht gegen das Volk, das sich nicht an deine Gebote hält! Rette mich vor falschen und bösen Menschen!
Denn du bist der Gott, der meine Zuflucht ist! Warum hast du mich verstoßen? Warum muss ich so traurig durchs Leben gehen, bedrängt von meinem Feind?
Sende dein Licht und deine Wahrheit! Sie sollen mich sicher führen. Sie sollen mich zu dem Berg bringen, wo dein Heiligtum ist – deine Wohnung.
Was bist du so bedrückt, meine Seele? Warum bist du so aufgewühlt? Halte doch Ausschau nach Gott! Denn bald werde ich ihm wieder danken. Wenn ich nur sein Angesicht schaue, hat mir mein Gott schon geholfen.“
(Psalm 43, 1-3 und 5 in der Übersetzung der BasisBibel)
„Verhilf mir zu meinem Recht, Gott!“ Oder wie es in der Lutherbibel übersetzt ist: „Schaffe mir Recht, Gott!“ – fünfmal steht diese Bitte in den Psalmen.
Gott als letzte und höchste Rechtsinstanz – genau darum geht es in dieser Bitte. An vielen Stellen ist davon in der Bibel die Rede: recht haben und recht bekommen, richten und gerichtet werden, verurteilen und Gnade walten lassen. Diese Themen sind so wichtig, dass sie einem Sonntag im Kirchenjahr seinen Namen geben. „Judika“ heißt der vorletzte Sonntag in der Passionszeit; in diesem Jahr der 21. März. Der Name nimmt die ersten Worte des 43. Psalms auf. „Judaica me Deus“ – so beginnt die lateinische Übersetzung des hebräischen Textes. Das heißt auf Deutsch: „Richte mich, Gott“.
Luther hat an dieser Bibelstelle den lateinischen Wortlaut übersetzt. Und so lautet der Text in der Lutherbibel bis zum Jahr 1964: „Richte mich, Gott, und führe meine Sache wider das unheilige Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten.“ Gott soll also richten - allerdings über mich selbst.
Übersetzen wir den Bibelvers aus der hebräischen Bibel und ebenso aus ihrer Übertragung ins Griechische, dann lautet der Text so: „Schaffe mir Recht, Gott!“ Oder anders ausgedrückt „Verhilf mir zu meinem Recht, Gott“. Und weiter: „Vertritt mich vor Gericht gegen das Volk, das sich nicht an deine Gebote hält!“ Hier sind es also die anderen, über die mit Gottes Hilfe gerichtet werden soll.
Welche Übersetzung ist nun die richtige? Soll Gott über mich richten oder soll Gott mir zum Recht verhelfen?
Bei einer Antwort auf diese Frage hilft ein Blick in die hebräische Bibel. Das Wort am Anfang von Ps 43 dort bedeutet so viel wie Recht herstellen oder Recht durchsetzen. Einerseits wird es verwendet im Sinne von richten, ein Urteil sprechen, oder auch jemanden verurteilen. Anderseits kann es auch bedeuten zum Recht verhelfen, jemanden ins Recht setzen. Die beiden Seiten des Richtens sind dabei zusammengehalten. Wie so oft beim Übersetzen der Bibel ist es ein Problem, dass die Worte der anderen Sprache eine abweichende Bedeutung als bei uns haben. Wir müssen entscheiden, was vom Textzusammenhang richtiger und wichtiger ist. Leider geht bei einer solchen Entscheidung manchmal etwas vom ursprünglichen Wortgehalt verloren. Und es entstehen Bilder vor unseren Augen, die nicht dem entsprechen, was im ursprünglichen Text gesagt ist.
Wenn wir von Gott als Richter sprechen, dann erinnern wir uns vielleicht an Darstellungen des göttlichen Weltgerichts auf Altarbildern oder in den Bogenfeldern über Kirchenportalen. Gott selbst oder Jesus thront als Richter und entscheidet über die Menschen zu seinen Füßen. Er entscheidet über Hölle oder Paradies, Seligkeit oder Verdammnis. Doch diese Bilder stammen aus unserer Rechtsvorstellung. Urteile sollen gefällt werden ohne Ansehen der Person. Ziel ist die scharfe Bestrafung des Verurteilten. Mittelalterliche Darstellungen der Justitia illustrieren dies deutlich. Es geht nicht mehr allein um einen Ausgleich zwischen zwei Parteien. Dies wurde ursprünglich durch die Waage dargestellt, die Justitia hält. Im Mittelalter kommen das Richtschwert und die Augenbinde hinzu. Es geht jetzt um die Bestrafung einer unrechten Tat. Doch wir wissen: Ohne die Hintergründe einer Tat und die jeweiligen Motive der Beteiligten zu kennen, lässt sich kein angemessenes Urteil fällen. Nur wird es problematisch, wenn immer mehr Aspekte berücksichtigt werden müssen. Denn dann wird die Rechtsprechung immer aufwendiger, komplizierter und langwieriger. Zwar gibt es meistens einen Gewinner und einen Verlierer. Aber oft verlieren beide Kontrahenten in einem Gerichtsprozess. Dann hat nur das Rechtssystem gewonnen.
Dies alles entspricht nicht dem biblischen Verständnis von Gott oder Christus als Richter. Gott wendet sich jedem Menschen zu. Und diese Zuwendung äußert sich sowohl in einem Gerichtsurteil als auch in einem Gnadenakt. Es geht grundsätzlich um die einzelnen Menschen und erst in zweiter Linie um strafwürdige Taten. Und die schlimmste Strafe ist, dass sich Gott von einem Menschen abwendet. Daher die drängende Frage im Psalm, an die sich sofort eine Bitte anschließt:
„Warum hast du mich verstoßen? Warum muss ich so traurig durchs Leben gehen, bedrängt von meinem Feind? Sende dein Licht und deine Wahrheit! Sie sollen mich sicher führen. Sie sollen mich zu dem Berg bringen, wo dein Heiligtum ist – deine Wohnung.“
Gott richtet, um dem Menschen dabei zu helfen, sich selbst neu auszurichten und sich an der Wahrheit zu orientieren. Dabei geht es um eine verantwortliche und verantwortete Gestaltung des eigenen Lebens. Nach diesem Leben schließt sich, so lesen wir im Neuen Testament, ein Gericht am Ende der Zeiten an. Hier ist nun Christus der Richter. Der ist den Menschen nah, hat er doch als Mensch unter ihnen gelebt. Der auferstandene Christus ist als der Richter zugleich auch der Retter, der Heiland, wie es Luther sagt. So ändert sich mit dem Geschehen, das wir Ostern feiern, auch die Vorstellung vom göttlichen Richter. Er ist ein rettender Richter und zugleich ein richtender Retter. Das eine hebt das andere nicht auf.
Diese Vorstellung ließ und lässt bei manchen Mächtigen in der Kirche die Alarmglocken klingen. Kann es denn sein, dass diejenigen, die sich schuldig machen und andere schädigen, einfach davonkommen? Kann es denn sein, dass nicht mehr mit Strafen gedroht werden kann? Und was wird, wenn eine so lukrative Strafandrohung, wie es der Ablass gewesen ist, wegfällt?
Martin Luther hat all denen, die den strafenden und rächenden Gott für Ihre Zwecke instrumentalisiert haben, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ihm war klar geworden, dass sich die Ablasspraxis auf die Vorstellung einer göttlichen Gerichtsverhandlung stützte, in der man sich mehr oder minder gütlich einigen kann. Dagegen setzt Luther seine grundlegende reformatorische Erkenntnis: Der allein im Glauben gerechtfertigte Mensch braucht das Gericht nicht zu fürchten. Zwar gibt es immer noch die Befangenheit und Furcht vor diesem Gericht, aber – so schreibt Luther – „an jenem Tage ... wird dies alles aufhören, und sie werden von allem Übel erlöset sein. Daher nennt die Schrift diesen Tag [des Endgerichts] den Tag unserer Erlösung“.
Zurück zum Psalmwort: „Richte mich“ und „schaffe mir Recht“ gehören zusammen. Ich stehe vor Gott wie alle anderen Menschen und nicht über ihnen. Aber gerade deshalb kann ich Gott um seinen Beistand bitten. Gerade weil ich mich dem göttlichen Gericht unterwerfe, kann ich Gott um Hilfe bitten gegen die „falschen und bösen Leute“, die mich bedrohen. Weil Gott in Christus Richter und Retter zugleich ist, kann ich ihm mit meinen Sorgen, Nöten und Ängsten und meiner Verzweiflung in den Ohren liegen. Was ich einem Richter nie offenbaren würde, kann ich dem Retter anvertrauen. Bei ihm finde ich Verständnis und Schutz. Ihm kann ich auch von meinen Erfolgen berichten, ihn teilhaben lassen an Plänen und Visionen. Der Richter mag bei manchen zur Vorsicht raten und auch mahnen. Der Retter wird mich auffangen, wenn ich stolpere oder gar falle. Der Psalm spricht vom Vertrauen auf Gott, das Zuversicht mit sich bringt. Denn Gott lässt sich entdecken, wenn ich nach ihm Ausschau halte. Der Psalmbeter ermahnt sich selbst: „Halte doch Ausschau nach Gott!“ Und er ist sich dabei gewiss: „Denn bald werde ich ihm wieder danken. Wenn ich nur sein Angesicht schaue, hat mir mein Gott schon geholfen.“
Amen.