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Andacht für die Woche vom 5. bis 11. Juli von Sup. i. R. Wilhelm Niedernolte

Sun, 05 Jul 2020 10:59:28 +0000 von St. Andreas Springe

Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi  erfüllen.
Gal. 6,2

S
elten habe ich diesen alten Vers aus dem Galaterbrief so aktuell empfunden wie in diesen Coronazeiten. Gemeinsam Lasten tragen – Solidarität – ist wohl die zentrale Herausforderung bei der Bewältigung der Folgen dieser Pandemie. Es hat eine Weile gedauert, auch bei mir, bis sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat. Noch vor wenigen Wochen habe auch ich mich gefragt: Warum soll unser Land die ökonomischen und finanziellen Lasten der Länder im Süden Europas mittragen? Wir haben doch schon etwa durch die Niedrigzinspolitik der letzten Jahre einen erheblichen Teil der Lasten übernommen. Heute gebe ich drei Antworten auf diese Frage: 
1. Europa soll die Lasten der südlichen Länder aus ökonomischen Gründen mittragen. So sehen es jedenfalls viele in der Wirtschaft unseres Landes Verantwortliche. Unsere Wirtschaft muss daran interessiert sein, die Märkte im Süden Europas stabil zu halten, damit unser wirtschaftlicher Erfolg erhalten bleibt.

2. Antwort auf die Frage, warum wir solidarisch sein sollen, Lasten gemeinsam tragen sollen: Aus Gründen der Humanität. Es geht um Menschen, die unverschuldet in eine Krise geraten sind, aus der sie allein nicht wieder herauskommen. Ich empfinde es als unerträglich, dass Ärzte aus Mangel an medizinischer Ausrüstung vor der Frage standen, welchem Patienten sie ein Beatmungsgerät zugestehen sollten – was für etliche Patientinnen und Patienten einem Todesurteil gleichkam. Solche Bilder möchte ich in Zukunft nicht mehr sehen müssen.

3. Antwort: Wir sollen solidarisch sein, weil wir Christen sind. Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi  erfüllen. Wir Christen sind mit dem Jesus aus Nazareth unterwegs, von dem wir glauben, dass er der Christus ist und die Lasten der ganzen Welt getragen hat. Das hat Folgen für die, die an ihn glauben. Paulus nennt es das Gesetz Christi, das im Lukasevangelium unter Bezugnahme auf das Alte Testament so formuliert wird: Du sollst Gott lieben. Du sollst deinen Nächsten lieben. Du sollst dich selbst lieben. (Lukas 10, 27)

Dieser Satz vom gemeinsamen Lasten tragen gilt nicht nur für Europa, er gilt auch für die Beziehung zwischen Menschen. Vor Jahrzehnten wurde dieser Vers aus dem Galaterbrief häufig als Trauspruch gewählt. Die Brautleute verbanden damit den Wunsch, dass die Lasten des Alltags in ihrer Ehe und darüber hinaus gemeinsam getragen werden sollten; oder die Erwartung, dass, wenn einer von beiden schwächelte, der andere – zumindest vorübergehend – die Last des anderen mittragen würde.  Damals wie heute ging und geht es z.B. um die Verteilung der Lasten in der Erwerbsarbeit und in der Familienarbeit.

Ich bin auf dem Land groß geworden zwischen Bauernhöfen, und habe in den ersten Jahren meines Lebens noch gesehen, wie mit Pferden gearbeitet wurde, wie der Bauer z.B. mit zwei Pferden gepflügt hat. Das wichtigste dabei war, dass die beiden Pferde miteinander zurecht kamen, dass sie gleichmäßig zogen, in demselben Tempo, in dieselbe Richtung, dass mal das eine, mal das andere Pferd in der Ackerfurche gehen musste, dass die beiden einander sympathisch waren, sich vertrugen und nicht bissen. Diesen Vergleich habe ich vor Jahrzehnten manchmal zur Beschreibung einer christlichen Ehe gebraucht, wenn die Eheleute sich den Vers gewünscht hatten: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi  erfüllen. Gleiche Richtung, gleiches Tempo, mal der eine, mal die andere stärker belastet.

Wenn Eheleute das über Jahrzehnte gemeinsam hingekriegt haben und vielleicht sogar das Fest der Goldenen oder sogar der Diamantenen Hochzeit feiern, und man sie fragt, wie sie das geschafft haben, kann es sein, dass sie sagen: Wir haben das geschafft, weil wir zusammengeblieben sind und immer wieder zusammengefunden haben. Natürlich gab es auch schwierige Zeiten, Zeiten, in denen wir nicht mehr miteinander wollten oder konnten, Zeiten, in denen wir am liebsten getrennt gegangen wären. Heute sind wir froh, dass wir das nicht gemacht haben. Wir sind zusammen alt geworden, und jetzt kommen wahrscheinlich neue Lasten auf uns zu. Denn alt werden bedeutet zwar nicht automatisch gebrechlich werden, aber die Anfälligkeit für gesundheitliche Beeinträchtigungen wird größer. Und darum gilt nun, im Alter, mehr als jemals zuvor: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi  erfüllen, das Gesetz, in dem nicht  Leistung und Erfolg wichtig sind, sondern  wo auch schwach sein, krank sein Platz haben.

Der Kirchenvater Tertullian, der vor 1600 Jahre lebte, sagte einmal zur Beschreibung unseres Glaubens: Ich halte, weil ich gehalten werde. Dieser Satz lässt sich erweitern: Ich liebe, weil ich geliebt werde, und mit Blick auf den heutigen Vers aus dem Galaterbrief: Ich trage, weil ich getragen werde. Das ist es, wovon wir Christen sprechen können, von der Erfahrung unseres Glaubens, dass wir von Gott gehalten, geliebt und getragen werden. Das heißt nicht, dass wir keine Probleme haben. Christen haben ähnliche Probleme wie andere auch – mit sich selbst, mit ihrer Familie, mit dem Geld, und sie gehen genauso unterschiedlich damit um wie andere auch. Da gibt es auch wie überall Problemflüchter und Problemlöser. Aber eins ist ihnen allen gemeinsam: Sie haben die Gewissheit, getragen zu werden, vielleicht von Menschen, ganz gewiss aber von Gott getragen zu werden. 
Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit.

Wilhelm Niedernolte
Superintendent im Ruhestand, Eldagsen
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